Monsieur Chagall


Na so was, sind Sie es Monsieur Chagall? Ich hätte nie erwartet Sie hier zu sehen.
Nach so langer Zeit... Aber so ist das Leben, man trennt sich und man sieht sich wieder.
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Sie erinnern sich auch, Monsieur Chagall? Damals, in Paris, als ich mit Bella über die Wolken flog und Sie, ganz klein da unten, leise "La vie en rose" summten? Manchmal auch chassidische Lieder. "Havva, nadira havva"...
Das waren die Zeiten! La boheme! Für jeden Blödsinn waren wir zu haben. Wissen Sie noch, wie Leger sagte ... Ach, unwichtig. Ist schon lange her. Wir sind jetzt alle älter, reifer. Sie sind sogar schon tot.
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Als ich Sie kennen lernte, Monsieur Chagall, wusste ich von Anfang an, dass Sie ein großer Magier waren und im jeden beliebigen Moment einen Blumenstrauß oder ein Pferd aus dem Ärmel ziehen konnten, es machte mir aber keine Angst. Auch wenn ich damals zu jung und zu unerfahren war um Sie zu verstehen, ließ ich mich gern von Ihnen verzaubern. Ich fühlte mich von Ihnen angezogen, auch wenn ich nicht wusste, was diese außergewöhnliche Anziehungskraft ausmachte. Nicht die Erotik, nein, das war etwas anderes. Wir waren ... ich weiß nicht?... Seelenverwandten? Zwei Kinder im Wald?
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Ja, Monsieur Chagall, Sie haben Recht. Wir sind beide die Fremden. Les etrangers. The strangers. Wir können die Sprache erlernen, Häuser kaufen und Wurzeln schlagen, wir können unsere Lüge noch so gut verkaufen, aber uns selbst können wir nicht täuschen. Hier, in dieser Welt sind wir zufällige Passanten, die immer wieder sehnsüchtig zurückblicken.
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Ja, Monsieur Chagall, ich weiß. Es gibt kein zurück. Nicht wirklich. Wir tragen die verstorbenen Welten unter den Augenlidern, wir hören sie in unserem Kopf hallen, wir hüten sie in einer Schatzkammer, zu der nur Unseresgleichen einen Zutritt haben. Es sind aber alles nur Bilder, Lieder, Gedichte, Geschichten... Wir bewachen die Atlantis.
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Sie, Monsieur Chagall, Sie wissen das Verstorbene wieder lebendig zu machen, das Nichtexistierende ins Leben zu rufen. Man braucht schließlich nicht viel, um eine Welt zu schaffen. Eine Sichel, eine Hütte, einen Himmel, die Jahreszeiten, die Musik. Menschen fragen manchmal, wie man die Musik malen kann? Oder den Rhythmus? Oder die Nostalgie? Aber was sind das für Fragen für einen Zauberer wie Sie ... Es reicht, dass Sie träumen, und schon ist der Zauber vollbracht. Wer kann schon sagen, was in einem Traum wirklich und was unwirklich ist?
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Sie sind ein kluger Mensch, Monsieur Chagall, auch wenn Sie manche für naiv halten. Sie wissen das Chaos zu nutzen. Witebsk oder Paris, Streit mit Malewicz oder Freundschaft mit Apollinaire, kubistische Kuh oder symbolischer Geiger, aus allem können Sie ihr eigenes Brot backen. Der Rhythmus, die Form... Alles sieht bei Ihnen so kinderleicht aus ....
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Sie müssen schon weg? Schade, aber ich kann Sie verstehen. Das Leben nach dem Tod kann ganz schön ermüdend sein. Alle versuchen in Ihrem Bauch zu wühlen. Sie nennen es In-ter-pre-ta-tion aber in Wahrheit ist das ein Beweis, dass sie mit der Magie nichts anfangen können. Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie sich verdrücken.
Grüßen Sie Bella von mir. Und den Geiger. Man sieht sich!